Nichts ist gut in Hong Kong: Bei meinem Besuch vor einer Woche sah alles noch nach einem Patt aus. Die Demonstranten, die ein Auslieferungsdekret an die Volksrepublik verhindern wollten, hatten sich durchgesetzt. Die Regierungschefin Hong Kongs, Carrie Lam, zog das umstrittene Gesetz zurück.
Frau Lam hatte sich zuvor während der Demonstrationen ungeschickt verhalten, nicht mit der Bevölkerung kommuniziert und damit erst recht die Proteste angefacht. Am Ende standen weitere Forderungen der Protestierenden im Raum, darunter etwa die Reform der Demokratie. Das bedeutete nichts anderes als den Wunsch, den Sonderstatus Hong Kongs gegenüber der kommunistischen Volksrepublik klar herauszustellen und das „One Country, two Systems“ so zu definieren, dass es nicht schon Jahrzehnte vor dem Ende der Übergangsfrist 2047 zu einer Farce verkommen würde.
Was würde Peking tun? Das Regime unter Herrn Xi Jinping hatte sich auffallend bedeckt gehalten, um nicht für den Schlamassel, den Frau Lam angerichtet hatte, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sie behauptet denn auch nach wie vor, dass das „Auslieferungsdekret“ ihre Idee war. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass sie dieses Gesetz ohne Pekings Billigung und Segen auf den Weg gebracht hat. Was aber durchaus sein kann, ist, dass sie sich gegenüber Chinas Regierung als die Statthalterin aufgespielt hat, die Hong Kong hart führt und daher keine Proteste zulässt. Sie hat sich verkalkuliert.
Wie es denn nun auch gewesen sein mag, die Situation ist verfahren. Für Peking sieht es so übel aus, dass – so sagten mir Beobachter in der Stadt – zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal klar ist, ob die Nomenklatura der kommunistischen Partei bei einer Neuwahl des Hong Konger Regierungschefs einen Kandidaten nach eigenem Gusto würde durchboxen können.
Und dann kamen die Randalierer in den weißen T-Shirts, die die verfahrene Situation zu Pekings Gunsten aufbrachen: Sie verletzten Passanten, Journalisten und eine schwangere Frau. Die – ebenfalls von Peking beeinflusste – Polizei Hong Kongs schaute weg. Und nun ist die Stadt durch diese Verbrecher, die in Hong Kong glasklar als Einflusstruppe Chinas gebrandmarkt werden, an den Rand des Kollapses gerückt. Das gefällt Peking! Denn nun kann es auftrumpfen und drohen, die „Volksbefreiungsarmee“, die in Hong Kong stationiert ist, ausrücken und Ruhe herstellen zu lassen.
Es ist ein Weg, den schon Russlands Vladimir Putin und der türkische Machthaber Erdogan gegangen sind: Die Situation destabilisieren und sich dann zum Retter auszurufen. Würde Peking auf diese Weise militärisch intervenieren, hätte das denselben Effekt, wie ihn das „Auslieferungsdekret“ gehabt hätte. Militärrecht würde wahrscheinlich installiert und damit die Verfassung außer Kraft gesetzt werden. Dissidenten könnten womöglich so ohne Anklage und Richter nach China überführt und dort auf Jahre ins Gefängnis gesperrt werden.
Vor der internationalen Gemeinschaft würde sich Präsident Xi als der präsentieren, der in Hong Kong wieder Recht und Ordnung hergestellt hat. Wie sollte ihm die freie Welt darauf antworten?
Hong Kong ist dieser Tage vielleicht der traurigste Ort der Welt: Wir erleben wie eine Demokratie und eine eigene Kultur, auf die die Hong Konger so stolz sind, ausgehebelt und in Konsequenz vernichtet werden soll. Neu ist, dass China dieses Mal nicht in seiner weniger beachteten Peripherie wie Tibet und Xinjiang die Menschen unter seine Knute zwingt, sondern in der prosperierenden Küstenregion.
Hong Kong war Chinas Schaufenster zur Welt. Nun herrscht endgültig und für den Letzten Klarheit, wohin China nach Willen von Präsident Xi gehen soll. Es werden in diesen Tagen viele Tränen vergossen werden, in und für Hong Kong.